Deutsche Provinz der Jesuiten

Legende und Wirklichkeit

Silberstatue des Ignatius in Il Gesù in Rom; auf dem Buch steht die Ordensdevise "Ad maiorem Dei gloriam" (Zur größeren Ehre Gottes). © SJ-Bild/CurGen

Ignatius-Biografie von Pierre Emonet SJ nun auch auf Deutsch

Von Anselm Verbeek (KNA)

Vorurteile, die "Mauern in den Köpfen", haben ein langes Eigenleben. Jahrhunderte lang galt Ignatius von Loyola (1491-1556) als der kühle Stratege, der kompromisslose Soldat und rationale Organisator. Und dies, obwohl belgische Jesuiten bereits 1731 einen Lebensbericht des Ordensgründers wieder entdeckten, der ahnen ließ, dass die offizielle Biografie, 1572 von Pedro de Ribadeneira im Auftrag des Ordens veröffentlicht, hagiografisch mit dem Ziel der Heiligsprechung frisiert worden war. Die historische Wahrheit der vielschichtigen Persönlichkeit des großen Basken wurde erst mit der epochalen Öffnung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil möglich und unter dem Generalat von Pedro Arrupe aufgearbeitet. Zuvor hatte der Heilige in der Schusslinie der konfessionellen Fronten gestanden: Dass im Jahr 1521 Martin Luther von Rom gebannt wurde und der verwundete Soldat Íñigo López de Loyola während der langwierigen und qualvollen Genesung seine Lebenswende als Gottsucher antrat, schien in der Epoche der Glaubensspaltung, fixiert auf "Reformation" und "Gegenreformation", nicht als Zufall.

Dabei haben beide Reformer so grundlegend Gemeinsames wie die Überzeugung, dass der Mensch in seiner persönlichen Vereinzelung und Verantwortung Gott unmittelbar, ohne vermittelnde Instanz, erfahren kann. Ignatius riskierte damit, in den Ruch eines Alumbrado, eines mystisch Erleuchteten, zu geraten und mehrfach Probleme mit der Inquisition zu haben. Der Schweizer Jesuit Pierre Emonet SJ, Sachkenner seiner Ordensgeschichte und Leiter der Genfer Kulturzeitschrift "Choisir", hat das Gespinst von der goldenen und schwarzen Legende behutsam beiseite geschoben, um das wahre Ignatius-Bild in seiner dialektischen Spannung freizulegen, "von der sein Leben und Handeln zeugen" (S.171). Sein Buch "Ignatius von Loyola. Legende und Wirklichkeit" liegt nun nach seinem Erscheinen auf Französisch und Spanisch in einer exzellenten deutschen Übersetzung vor: Auch stilistische Eigenarten des Autors wie eine unterhaltsam-erheiternde Ironie, ohne verletzend zu wirken, werden deutlich.

Emonet hat den verdunkelnden Firnis der hagiografischen Überlieferung entfernt, die Quellen ungefiltert sprechen lassen: In sehr nuanciert leuchtenden, frischen Farben entstand ein Lebensbild der Gründergestalt des innovativen Ordens, aus dessen Mitte mit Franziskus erstmals ein Papst hervorgegangen ist. Nicht nur "der familiäre Mutterboden", auch die "turbulente Jugend" wird vom Autor gewürdigt. Íñigo, aus einer Adelsfamilie stammend, schwebte eine Hofkarriere vor. Erst Page, später im Dienst des Vizekönigs von Navarra; er liebte Tanz und Bratsche, Ritterromane und Turniere, Amour und Ehrenhändel: ein Hidalgo (Adliger) in schriller Kleidung und schulterlangem Haar, ein Kavalier und Haudegen, nie ohne Waffen. Historiker haben aus den verschütteten Quellen auch ein uneheliches Kind ausgegraben. Da gab es genügend Vorbilder in der eigenen Ahnenreihe, aber auch bei einem so aufrichtigen Heiligen wie Augustinus. Íñigos wüstes Treiben ist sogar vor Gericht aktenkundig geworden.

Autobiografie beschlagnahmt

Dem kranken Ignatius erscheint der Hl. Petrus in einer Vision. © SJ-Bild/CurGen

Ignatius hat in seinem Bericht, den er am Lebensabend für seine Mitbrüder diktierte, seine Jugendsünden "klar, deutlich und in allen Einzelheiten" überliefert. Die Kopien der Autobiografie wurden jedoch von Francisco de Borja, dem dritten Generaloberen, eingezogen und ihre Lektüre verboten, um den Boden für die ordensoffizielle Vita zu bereiten: "Eine echte Beschlagnahmung, deren erklärtes Ziel es war, jegliche Widersprüche zu vermeiden" (S.18). Die ordensinterne Zensur blendete Ignatius" Jugend weitgehend aus und vermied alle Verdachtsmomente, die den Stifter in die Nähe eines Erasmus von Rotterdam oder der inquisitionsbedrohten Alumbrados rückten.

Auch heute gilt als "die eigentliche Geburtsstunde" (S.22) des Ordens der 20. Mai 1521. Der verwundete Hidalgo entschloss sich, nicht mehr einem König und der eigenen Karriere zu dienen, sondern dem Reich Gottes. Emonet legt immer wieder den kritischen Finger auf Schlüsselszenen, die in der offiziellen Biografie verändert wurden: Während Ignatius nur den Festtag des verehrten Petrus nennt, an dem er eine lebensgefährliche Krisis überwand, bemüht Ribadeneira den Apostelfürsten persönlich, der dem Kranken erschienen sein soll (S.23). Wie bei Teresa von Ávila (1515-82), deren Vorbild der Jesuitenorden war, regte spirituelle Literatur zum Umdenken an. Wie die kastilische Heilige fühlte sich Íñigo zerrissen zwischen Ekel und Anziehung der Welt. Aus dem Ringen der beiden widersprüchlichen Antriebe, aus den ihnen entspringenden Erfahrungen von Trockenheit und Begeisterung entwickelte Íñigo die Lebenshilfe der "Geistlichen Übungen".

Spiritueller Durchbruch

Ignatius verfasst die Exerzitien in der Höhle von Manresa. Gemälde von Chevalier-Tayler (1908) in der Kirche Sacred Heart Wimbledon © SJ-Bild/Jesuit Institute

Rückschauend hat Ignatius die geistlichen Begnadungen in Manresa nahe dem katalanischen Bergkloster Montserrat sein "Noviziat" genannt. Der büßende Autodidakt hatte einen spirituellen Durchbruch erlebt, Erfahrungen, die er in seinen Exerzitien zur "Unterscheidung der Geister" verarbeitete. Auch hatte Íñigo in Manresa seine wohl wirkmächtigste Vision: Beim Betrachten des Flusses Cardoner wurde ihm zur Gewissheit, den Schöpfergott in allem zu finden, in "Dingen des Glaubens und der Wissenschaft" (S.48). Auch Naturwissenschaften konnten zur Lebensaufgabe von Jesuiten werden, wie die Astronomie für Schall von Bell in Peking oder die Paläanthropologie und Evolution für Teilhard de Jardin. Nach einer Pilgerreise ins Heilige Land fasste Ignatius mit seinem eisernen Willen den Entschluss, Theologie zu studieren, um Priester zu werden. Bereits im vierten Lebensjahrzehnt, drückte er die Schulbank zum Lateinunterricht. Mit wenig Erfolg, weil es ihn und Gleichgesinnte nach draußen trieb, die öffentlichen Plätze aufzusuchen und "den Seelen zu helfen".

Laientheologen mit Privatinspirationen auf der Straße: die Unruhestifter riefen die Inquisition auf den Plan; Verhöre, Haft, Seelsorgsverbot bewogen Íñigo, der sich nun latinisiert Ignatius nannte, die Enge der spanischen Universitäten zu verlassen und in Paris zu studieren. Er hatte Zeit gebraucht, "viele Kämpfe, um seinen Narzissmus und seine Libido umzuorientieren", wie Emonet in einem psychoanalytischen Exkurs "Der Pilger auf der Couch" (S.55) schildert. In Paris fand Ignatius "Freunde für ein gleiches Ideal", wie das Kapitel trefflich überschrieben ist (S.83): die Seelen-, Lern- und Wohngemeinschaft mit Franz Xaver, dem Asienmissionar, und Peter Faber, der in Köln die erste deutsche Jesuitenniederlassung gründen sollte.

Ohne die Absicht, eine Kongregation zu gründen, banden sich die Freunde am 15. August 1534 vor Gott durch Gelübde. In Paris, später in Rom, musste Ignatius immer wieder ihren Glauben vor Inquisitionsgerichten verantworten, weil die Freunde sich nicht in die Regeln der traditionellen Orden fügten. Am 27. September 1540 erlangte die Gesellschaft Jesu endlich die päpstliche Approbation. Als Generaloberer leitete Ignatius von Rom aus den rasanten Aufbau des Ordens.

Der Schweizer Jesuit Pierre Emonet ist Leiter der Genfer Kulturzeitschrift "Choisir". © SJ-Bild/jesuiten.ch

Eine sehr wichtige Rolle spielten die Frauen - auch nach der geistlichen Wende. Sie sind die ersten Unterstützerinnen Ignatius" in Barcelona, sie öffnen dem Ordensoberen die Türen zu den Mächtigen. Streng geheim ist selbst eine Tochter Kaiser Karls V. "Jesuitin". Pierre Emonet bietet in seiner Biografie aktuelle Aspekte: Schon der innovative Ordensgründer war der Meinung, dass "die Reform der Kirche über die Reform der Kurie" laufen müsse (S.157) - eine spannende, unterhaltsame und informative Lektüre!

Pierre Emonet: Ignatius von Loyola. Legende und Wirklichkeit. Übersetzt aus dem Französischen von Cornelia M. Knollmeyer. Würzburg (Echter) 2015, 183 S., 14,90 Euro.

letzte Aktualisierung am 31.08.2016